Special #2: Gedankenkarussell

29.08.2017

Auftakt zum zweiten Special

Tretet näher liebe Kinder, seid nicht schüchtern! Kommt und steigt auf, auf das schöne, grosse und bunte Karussell meiner Gedanken. Sucht euch euren Platz auf einer der fantasievollen Figuren und haltet euch gut fest, denn das Karussell kann sich sehr schnell drehen.

Herzlich willkommen auf meinem Gedankenkarussell!

Eine normale Zugfahrt - Gedankenlesen

Heute bin ich Zug gefahren. Natürlich nicht zum ersten Mal. Ohne Auto bin ich auf die ÖV angewiesen. Ja, ich fahre sogar innerhalb meines Wohnortes mit dem Bus und ich stehe dazu. Ich gehöre nun mal nicht zu den Velo-Frauen hier im Ort. Sie sind eine Spezies für sich. Man erkennt sie sofort. Ja, unsere Velo-Frauen haben einen eigenen Blogpost verdient (folgt...). Nicht dass ich selbst kein Fahrrad besitzen würde. Ich benutze es sogar hin und wieder. In unserem Dorf bewege ich mich aber hauptsächlich zu Fuss oder eben mit unserem Ortsbus fort.  Einmal pro Woche besuche ich unsere schöne Hauptstadt. Dann fahre ich wie heute Zug. Wisst ihr, wie ich die Zeit im Zug totschlage? Oft lese ich Zeitung oder spiele mit dem Handy. Meistens aber, lese ich die Gedanken der Leute im Zug. Ich kann Gedankenlesen? Nein, kann ich natürlich nicht. Ich beobachte die Menschen. Studiere ihren Gesichtsausdruck. Schaue was sie gerade machen, ausser Zugfahren. Dann stelle ich mir vor, was in ihren Köpfen so los sein könnte. Okey, das mag seltsam klingen, macht aber zumindest mehr Spass als in der Zeitung zu blättern und all` die schlechten News zu lesen.

Bild: Zugfahrt Quelle: https://www.pinterest.se/pin/790663278302036218/

Da war ein Mädchen. Ich hätte sie so um die siebzehn geschätzt. In ihren Händen das Smartphone, ihr Blick nie vom Screen abgewendet sass sie da. Ihr Gesicht erzählte mir ganze Bände. Ich schaute sie an und meine Fantasie erledigte den Rest: das Gedankenlesen.  Oder eigentlich ist es ja mehr ein Raten oder Interpretieren oder so. Ihre Augen glänzten und durch die Kopfhörer war ihre Musik als leises Brummen bis zu mir hörbar. Sie tippte wie verrückt auf ihrem Smartphone herum und im Sekundentakt änderte sich ihr Gesichtsausdruck, ganz so als hätte sie das was sie schrieb und las auch wirklich mit jeder Zelle ihres Körpers gefühlt und gespürt. Keine Frage, sie war mitten im Chat über Whatsapp oder Messenger mit ihrem Schwarm. Erste Liebe oder so. Immer wieder huschte ein verlegenes Lächeln über ihre Lippen und sie musste tief Luft holen. Ich musste grinsen. Die Musik in ihren Ohren, betonten doch ihre Gefühle noch extra und dank dieser musikalischen Begleitung war sie wohl auch nur noch physisch bei uns im hier und jetzt, im Zug.                                                                                                  

Eine Reihe weiter vorne sass dieser nerdige Typ. Er sass mit dem Rücken zu mir. Nur zwei Mal konnte ich sein Gesicht von der Seite sehen. Ganz klar, ein junger Nerd. Typischerweise mit Brille und total unmodischer Kleidung. Ein für meinen Geschmack viel zu kurzes T-Shirt und eine kurze grünliche Hose. Sein Kopf ragte über die Kopfstütze seines Sitzes raus. Er war ganz klar mit Abstand der grösste Mensch im Abteil. Seine Hände parkierte er auf seinen Knien und dort blieben sie auch während der ganzen Fahrt. Sein Kopf bewegte er auch kaum. Manchmal blickte er kurz aus dem Fenster und eben diese zwei Mal in die andere Richtung, so dass ich mir schnell schnell anschauen konnte, was er wohl denken könnte. Da war kaum Bewegung in seinem Gesicht. Klischeehaft müsste er an Computergames, virtuelle Realität, Fantasy Romane, Cybersex oder Pizza denken. Wobei seine Gedanken auch viel tiefgründiger sein konnten. Hatte er überhaupt Freunde? War er einsam? Wurde er gemobbt? Auf einmal tat er mir richtig leid. Mir ging spontan durch den Kopf, dass dieser Kerl wohl bis heute der schwierigste Fall meiner Gedankenlesekunst war. Gedankenlesekunst? Gibt es dieses Wort überhaupt? Für einen Moment spielte ich mit der Idee, auf den freien Platz neben ihm zu sitzen und ihn anzusprechen. Ein Gesprächsthema hatte ich auch schon gefunden. Bestimmt würde er genau wissen, ob dieses lange Wort "Gedankenlesekunst" in der deutschen Sprache existiert oder nicht. Ich blieb an meinem Platz sitzen und wandte meinen Blick von dem Nerd ab. Ich sah zum Fenster raus. Im Fenster spiegelte sich die ältere Dame via à vis von mir. Mir fiel sofort der rote Lippenstift auf. Wie praktisch, durch die Spiegelung im Fenster konnte ich die Frau indirekt direkt beobachten. Ich versuchte sie mir als junge Frau vorzustellen. Wie hat sie wohl ausgesehen? Sie muss sehr schön gewesen sein, denn das war sie immernoch. Plötzlich kamen mir die Geschichten in den Sinn, welche meine Grossmutter erlebt hatte. Die Frau könnte ungefähr zur gleichen Zeit geboren worden sein, wie meine Grossmutter. Zweiter Weltkrieg. Angst. Hunger. Was könnte mir diese schöne alte Frau wohl alles erzählen?

Plötzlich waren wir am Zielort angekommen und fragte mich, wo die Zeit hingegangen ist. Diese Menschen haben während der Fahrt von mir neue Geschichten bekommen. Ob sie teilweise sogar zugetroffen haben oder nicht, ist dabei nicht wichtig. Würde ich die Strecke jeweils alleine mit dem Auto zurücklegen, dann hätte ich nie die Möglichkeit solche interessanten Menschen  sehen und studieren zu können. Mir haben diese Menschen eine kurze, spannende Zugfahrt geschenkt und ich stieg mit einem Lächeln aus.

Ich hoffe der erste Teil des Special #2 hat euch gefallen und ihr seid neugierig was das Gedankenkarussell noch bringen wird. :-)


Herzlich, Alinee

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